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Vertragsverletzungsverfahren gegen Malta: Die EU stellt sich gegen „Bill 55“

von Patrick Redell

 

Mit der Verabschiedung von „Bill 55“ hat Malta ein rechtspolitisches Signal mit weitreichenden Folgen für den europäischen Binnenmarkt und die grenzüberschreitende Rechtsdurchsetzung im Glücksspielbereich gesetzt. Nun reagiert die Europäische Kommission: Ein Vertragsverletzungsverfahren ist eingeleitet – mit potenziell erheblichem Einfluss auf die Rückforderung von Online-Glücksspielverlusten durch Spieler in ganz Europa.

Was regelt Bill 55?

Bill 55, offiziell eingeführt als Artikel 56A des maltesischen Gaming Act, stellt einen nationalen Schutzmechanismus für Anbieter maltesischer Online-Glücksspiele dar. Das Gesetz verbietet maltesischen Gerichten, ausländische Urteile zu vollstrecken, wenn diese auf der Annahme beruhen, dass das von Malta lizenzierte Glücksspielangebot rechtswidrig sei. Das gilt insbesondere für Urteile aus Deutschland, Österreich und anderen EU-Staaten, in denen Gerichte in jüngerer Vergangenheit regelmäßig Rückzahlungsansprüche von Spielern zugesprochen haben.

Die rechtliche Konstruktion von Bill 55 beruft sich dabei auf das Konzept des „ordre public“ – der öffentlichen Ordnung. Genau hier setzt nun die europarechtliche Kritik an.

Der Konflikt mit dem EU-Recht

Die Brüssel Ia-Verordnung (Verordnung (EU) Nr. 1215/2012) verpflichtet EU-Mitgliedstaaten grundsätzlich zur gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen. Nur in engen Ausnahmefällen kann ein Urteil unter Berufung auf den ordre public verweigert werden – etwa, wenn es fundamentale Prinzipien der nationalen Rechtsordnung verletzen würde.

Bill 55 jedoch geht weit darüber hinaus. Durch die pauschale Anweisung an maltesische Gerichte, bestimmte Urteile kategorisch nicht anzuerkennen, konterkariert Malta das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der EU in systematischer Weise. Das ist nach Auffassung der Kommission – und vieler europäischer Rechtswissenschaftler – eindeutig unionsrechtswidrig.

Die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens

Die Europäische Kommission hat im Juni 2025 offiziell ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Malta eröffnet. Der erste Schritt in diesem mehrstufigen Verfahren ist der sogenannte „Letter of Formal Notice“. Darin fordert die Kommission Malta auf, binnen zwei Monaten zu erklären, wie es die bestehenden unionsrechtlichen Verpflichtungen künftig einhalten will.

Reagiert Malta nicht zufriedenstellend, wird die Kommission voraussichtlich eine „mit Gründen versehene Stellungnahme“ (Reasoned Opinion) abgeben – der nächste Schritt vor einer möglichen Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Kommt es zum Verfahren in Luxemburg, könnte nicht nur die Aufhebung von Artikel 56A drohen, sondern auch empfindliche Strafzahlungen gegen den Inselstaat.

Maltas Verteidigungsstrategie

Die maltesische Regierung sowie die Malta Gaming Authority (MGA) verteidigen Bill 55 vehement. Die Maßnahme sei keine gezielte Sabotage der europäischen Anerkennungsmechanismen, sondern ein Akt der Rechtswahrung im Interesse der eigenen öffentlichen Ordnung. Man wolle die wirtschaftliche Stabilität eines wichtigen Sektors – der iGaming-Industrie, die über 10 % des Bruttoinlandsprodukts Maltas ausmacht – schützen.

Zudem beruft sich Malta auf den Gedanken, dass nationale Gerichte auch im Rahmen der Brüssel Ia-Verordnung grundsätzlich befugt seien, Urteile aus anderen Mitgliedstaaten im Einzelfall zu prüfen. Die Argumentation: Bei Entscheidungen, die auf restriktiven Glücksspielregelungen beruhen – etwa aus Deutschland oder Österreich –, könne nicht ausgeschlossen werden, dass sie gegen die europäische Dienstleistungsfreiheit verstoßen.

Auswirkungen auf Spieler, Unternehmen und Jurisdiktionen

Das Vertragsverletzungsverfahren könnte erhebliche Konsequenzen für alle Beteiligten mit sich bringen:

  • Für Kläger aus Deutschland, Österreich oder den Niederlanden würde die Aufhebung von Bill 55 bedeuten, dass Urteile auf Rückzahlung von Glücksspielverlusten künftig auch in Malta vollstreckt werden könnten – ein entscheidender Schritt zur praktischen Realisierbarkeit solcher Titel.

  • Für Glücksspielanbieter mit Sitz in Malta, die in den vergangenen Jahren systematisch Einsprüche gegen ausländische Urteile eingelegt haben, droht eine Welle vollstreckbarer Forderungen – mit potenziellen finanziellen Risiken in Millionenhöhe.

  • Für die EU-Rechtsordnung insgesamt steht mehr auf dem Spiel: Der Fall entwickelt sich zur Grundsatzentscheidung über das Verhältnis nationaler Glücksspielpolitik zum unionsrechtlichen Binnenmarktsystem und zur justiziellen Zusammenarbeit innerhalb der Union.

Fazit: Eine Frage europäischer Rechtsstaatlichkeit

Mit Bill 55 hat Malta versucht, sich über das europäische Prinzip der gegenseitigen Anerkennung hinwegzusetzen – nicht durch Einzelfallprüfungen, sondern durch eine kategorische Verweigerungshaltung. Die Europäische Kommission sieht hierin eine offensichtliche Verletzung des Unionsrechts und reagiert nun mit dem schärfsten juristischen Instrument, das ihr zur Verfügung steht: dem Vertragsverletzungsverfahren.

Die kommenden Monate werden zeigen, ob Malta zur Rücknahme des Gesetzes bereit ist oder ob es auf eine Grundsatzentscheidung durch den EuGH ankommen muss. So oder so: Der Fall Bill 55 wird über den Glücksspielsektor hinaus als Testfall für die Integrität des europäischen Rechtsraums betrachtet werden müssen.